Geänderte Textzeile beim Rammstein-Konzert in Berlin: Till Lindemann provoziert seine Kritiker
Trotz des aktuellen Skandals um Till Lindemann stehen Rammstein in Berlin auf der Bühne. Wir blicken auf die Szenen zurück, die sich bisher abgespielt haben
Es ist ein heiß umstrittenes Thema, das seit Wochen die Schlagzeilen regiert: Mehrere Frauen erheben teilweise anonym, teilweise öffentlich massive Vorwürfe gegen Till Lindemann. Der Sänger soll auf seinen Aftershowpartys weibliche Fans rekrutiert lassen haben, auf denen es zu sexuellen Handlungen gekommen sein soll. Gegen die Anschuldigungen, in denen es heißt, dass einige der Frauen mithilfe von Alkohol gemischt mit K.O.-Tropfen betäubt worden sein sollen, ließ Lindemann durch seine Anwälte zurückweisen. Obwohl die Staatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen gegen den Künstler eingeleitet hat, gilt die Unschuldsvermutung. Und die hält den Großteil seiner Fans nicht davon ab, weiterhin seine Konzerte zu besuchen. Nun ist der Musiker trotz des Skandals zusammen mit seiner Band Rammstein in Berlin angekommen und spielt dort dreimal im ausverkauften Olympiastadion. Die ersten zwei Konzertabende der Europe Stadium Tour in der deutschen Hauptstadt könnten kaum grotesker verlaufen sein. Soundground war beim zweiten Konzert dabei, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen.
Trotz Petitionen und Proteste: Rammstein dürfen in Berlin spielen
Nachdem die Vorwürfe um Till Lindemann immer lauter wurden, forderten einige Betroffene, mittlerweile Ex-Fans und Mitfühlende die Absage aller Konzerte von Rammstein. Doch daraus wurde (bisher) nichts. Lediglich wurde die berüchtigte Row Zero verboten, in der sich immer die Auserwählten befunden haben sollen, die später auf Lindemanns private Aftershowspartys gebracht worden sein sollen. Und auch die legendären Aftershowpartys selbst wurden abgeblasen. Obwohl sich die Initiativen „Keine Bühne für Rammstein“ und „Kein Rammstein in Berlin“ extrem dafür eingesetzt haben, dass die Berliner Rockband nicht in ihrer Heimatstadt spielen dürfen, scheiterten sie mit ihrer Forderung. Berlins Kultursenator Joe Chialo begründete die Entscheidung, die Konzerte nicht abzusagen, mit den Worten: „Die Forderung ist emotional verständlich, rechtlich gibt es keinen Hebel.“
Trotzdem ließen sich über 300 Aktivist*innen nicht davon abhalten, ein Zeichen zu setzen und protestierten am ersten Konzertabend nach einem kurzen Fußmarsch vor dem Haupteingang des Olympiastadions. Sie spielten durch ihre Lautsprecher Sprachnachrichten von Opfern ab, die schilderten, von sexueller Gewalt betroffen zu sein. Trotz aller Mühe strömten über 60.000 Rammstein-Anhänger an ihnen vorbei und ins Stadion. Immer wieder werden die Demonstrant*innen teilweise queer- und frauenfeindlich verhöhnt. Britt Baiano, die Sprecherin des Bündnisses „Kein Rammstein in Berlin“ berichtete sogar davon, dass neben erhobenen Mittelfingern auch Hitlergrüße gezeigt worden sein sollen. Auffällig sei auch gewesen, dass es sich vor allem um männliche Rammstein-Anhänger handelte, die ihrer Band vor den Aktivist*innen ihre Treue zeigten. Jedoch sorgte die Polizei vor Ort dafür, dass sich Demonstrant*innen und Fans weitestgehend friedlich verhielten. Auch im Olympiastadion selbst gab es keine Ausschreitungen zu verzeichnen.
Fans feiern frenetisch
Im Austragungsort des Konzertes selbst will man von den Anschuldigungen um Till Lindemann nicht viel wissen. Die meisten sind in regelrechter Feierlaune. In den ersten Reihen ist ein Meer aus roten und weißen Herzluftballons zu sehen, das symbolisieren soll, dass die Fans weiterhin zu Lindemann halten. Die meisten Kommentare, die man aus den Medien und im Stadion selbst aufschnappt: „Solange die Unschuldsvermutung bei Till gilt, hält uns nichts davon ab, die Konzerte zu besuchen.“ Doch es mischen sich auch einige Stimmen unter das Publikum, die zwischen den Stühlen stehen. „Ich höre Rammstein seit meiner Jugend. Die Konzerte sind ein absolutes Muss für mich. Allerdings bin ich der Meinung, wenn es um die sexuellen Vorwürfe um Till geht, dass bei der Menge der Frauen, die immer wieder von den gleichen Abläufen [Casting für die Row Zero via Instagram und die anschließenden Partys] sprechen, dass da ein Fünkchen Wahrheit zumindest dran sein muss“, gibt Robert L. auf Nachfrage gegenüber der Soundground-Redaktion an. Die Schlagzeilen lassen sich also nicht komplett ausblenden, auch wenn die Mehrzahl noch immer hinter Lindemann zu stehen scheint.
Kalkül: Till Lindemann ändert einige Textzeilen
Man könnte meinen, dass Till Lindemann gerade wirklich alles verkörpert, was einem Rockstar nachgesagt wird: Obwohl er gerade der Bad Guy der Nation und der gesamten Musikbranche zu sein scheint, fährt er zu Beginn des Konzerts mit einem Fahrstuhl schon fast aus dem Himmel auf die Bühne herab, spricht mit erhobenen Händen zu seinen Fans, als wären sie seine Gefolgsleute. Er wird zusammen mit seinen Kollegen Richard Kruspe, Paul Landers, Oliver Riedel, Christoph Schneider und Christian „Flake“ Lorenz mit tosendem Applaus empfangen. Wie auch schon bei den Konzerten zuvor schweigt die Band über den Elefanten, der im hiesig gefüllten Porzellanladen steht. Um ehrlich zu sein: Ihnen bleibt auch nichts anderes übrig, denn sonst würden sich allesamt nur noch mehr in die Nesseln setzen. Stattdessen bringen sie ihr Programm wie Profis, die sie nun mal sind, über die Bühne. Allerdings lässt Lindemann seine Fans zwischen den Zeilen lesen.
Schon bei den Konzerten zuvor ließ er einige Textpassagen bewusst aus oder betonte diese mit Nachdruck. Vor allem bei der Zeile „Wir wollen, dass ihr uns vertraut“ bei „Du hast“ legt der Sänger die Betonung immer wieder auf das kleine Wörtchen „uns“. Doch am ersten Abend des Berlin-Konzerts legt er nochmal einen drauf. Bei der Performance zu dem Track „Angst“ heißt es eigentlich: „Alle haben Angst vorm schwarzen Mann“. An jenem Abend brüllte der Musiker allerdings ins Mikrofon: „Alle haben Angst vor Lindemann“. Ein Satz, der grotesker in dieser ganzen Szenerie kaum sein könnte. Wie zu erwarten: Die Fans feiern diesen Move von ihrem Idol. Am Ende der Ballade „Ohne dich“ heißt es dann auch noch „Ohne euch“.
Am Sonntagabend gibt es auch wieder die bekannten abgewandelten Passagen – allerdings mit einigen Unterschieden. Im Gegensatz zum Vorabend zeigt sich der Frontsänger bei der Performance von „Angst“ zurückhaltend und lässt die Zeile „Alle haben Angst vorm schwarzen Mann/Lindemann“ lieber direkt komplett von seinem Publikum singen. Dafür hat er sich aber etwas anderes einfallen lassen. Dieses Mal textet Lindemann die Textpassage „Weh mir, oh weh. Und die Vögel singen nicht mehr“ aus „Ohne dich“ mit den Worten „Und die Sänger vögeln nicht mehr“ um. Die meisten Leute im Olympiastadion wiegten sich dabei so vertieft in den Armen, dass sie die Spitze ihres Superstars kaum bemerkten. Kein Wort aus Lindemanns Mund fällt hier unbedacht.
Abseits der Vorwürfe: So verliefen die ersten beiden Konzerte
Es ist wirklich schwer, die massiven Vorwürfe um Till Lindemann auszublenden. Auch bei den Konzerten selbst ist vereinzelt sichtbar: Nicht jeder kann die Band gerade völlig inbrünstig feiern. Versucht man aber doch mal, die Umstände auszublenden, muss man durchaus anerkennen, dass die Show ein absolutes Spektakel ist. Das Konzert gleicht schon fast einer Theateraufführung. Alles scheint minutiös durchgetaktet und jeder Schritt der einzelnen Bandmitglieder durchchoreografiert zu sein. Die Feuershow ist und bleibt nun mal einfach ein absolutes Highlight der Rammstein-Gigs. Obwohl der Sound im Olympiastadion sonst immer eher schlecht als recht zu sein scheint, ist er für das Genre, das Rammstein bedient, einfach perfekt. Der Sound brettert brachial durch den Veranstaltungsort, als würde er die Wände damit einreißen wollen. Während über Lindemanns Gesicht kaum ein Lächeln huscht, sieht das bei seinen Bandmitgliedern ganz anders aus. Während Richard Kruspe und Paul Landers immer wieder untereinander scherzen und mit dem Publikum agieren, verteilt Christoph Schneider massenweise Herzen, die er mit seinen Händen formt und sendet seinen Fans Luftküsse zu. Letzterer ist bis dato der einzige aus der Rockgruppe, der sich zu den Vorwürfen seines Bandkollegen auf Social Media geäußert hat. Und er ist auch nach wie vor der Einzige, der am Ende der Show den Tränen nahe ist.
Bedachte Abschiedsworte
Am Ende des Konzerts versammeln sich alle Bandmitglieder vor der Bühne, um sich von ihren Fans lautstark jubelnd feiern zu lassen. Seitdem die Anschuldigungen um Till Lindemann laut geworden sind, geht die Gruppe am Ende vor den Zuschauer*innen mit gesenktem Kopf auf die Knie. In dieser Position verweilt sie einige Sekunden, um ihren Fans Dankbarkeit zu zollen. Das ist wohl der einzige Part, an dem Lindemann sein durchchoreografiertes Programm offiziell beendet und neben einem kurzen „Berliiiiin“-Ausruf mitten in der Show mit dem Publikum interagiert. „Das war großartig. Danke, dass ihr hier und bei mir seid. Dankeschön“, heißt es, bevor er die Bühne samt Band die Bühne verlässt und wieder in den Himmel aufsteigt. Sicher ist: Kein Wort fällt hier unbedacht! Wir können uns schon sicher sein: Auch für das letzte Konzert in der Hauptstadt, dass am 18. Juni stattfinden wird, wird sich Lindemann wieder etwas ausgedacht haben und wird seine Anhänger und seine Kritiker wieder zwischen den Zeilen lesen lassen. Wer weiß, vielleicht ist es sogar das letzte Mal, dass Rammstein nicht nur in ihrer Heimatstadt, sondern möglicherweise auch in Deutschland das letzte Mal auf der Bühne stehen werden. Das letzte Wort im Fall Lindemann scheint noch nicht gesprochen worden zu sein ...